«Europa ist auf die ökonomische Gleichheit fixiert»
Die Frage über ein Zuviel oder Zuwenig an gesellschaftlicher Gleichheit lasse sich nicht allein mithilfe von Statistiken entscheiden, sagte Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Ulrich Gumbrecht an der 21. Reichmuth & Co Lecture an der Universität Luzern.
Es komme auch auf die empfundene Gleichheit und die prägenden Gleichheitsideen einer Gesellschaft an. Gemäss dem Literaturwissenschafter und Philosophen Gumbrecht lassen sich vor allem drei Gleichheitsvorstellungen unterscheiden: die Gleichheit vor dem Gesetz, die ökonomische Gleichheit und die kulturelle Gleichheit.
Die Gleichheit vor dem Gesetz habe sich in Europa ab dem späten 17. Jahrhundert entwickelt, als der aufkommende Frühkapitalismus mit seiner sozialen Dynamik die alte Ständegesellschaft herausforderte. Die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit wurde hingegen erst mit der Industrialisierung und speziell durch das Revolutionsjahr 1848 wirkmächtig. Die sichtbare Armut des Proletariats in den Städten habe den Wunsch nach einer ausgleichenden Umverteilung durch den Staat erzeugt, sagt Gumbrecht. Die kulturelle Gleichheit wiederum baue auf der Gleichheit vor dem Gesetz auf, erweitere sie jedoch um den Gedanken, dass nicht nur Individuen, sondern auch Gruppen und Kulturen ein Recht auf Gleichheit besitzen.
Während in Europa insbesondere der ökonomischen Gleichheit Aufmerksamkeit geschenkt werde, seien die USA mehr um die kulturelle Gleichheit besorgt, sagt Gumbrecht. Dies zeige sich an der Idee der «affirmative action», der positiven Diskriminierung zu Gunsten von Minderheiten. An Eliteuniversitäten wie Stanford oder Harvard sei «affirmative action» omnipräsent, die Idee der wirtschaftlichen Gleichheit aller Bürger hingegen nicht. Trotz dieser Unterschiede befände sich der ganze Westen in einer Sackgasse, so der Befund Gumbrechts. Denn je gleicher eine Gesellschaft sei, desto mehr fixiere sie sich auf die noch verbliebene Ungleichheit.
Welche Wege Hans Ulrich Gumbrecht vorschlägt, um die Gleichheitsfixierung des Westens zu lösen, sehen Sie im Video vom Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP).